Die große Welt und die kleine Paula eine Rezension

Das 2020 im Belz-Verlag erschienene Buch Die große Welt und die kleine Paula von Heinz Becker erzählt vom Leben der Paula Kleine. Dieses Leben ist geprägt davon, dass Paula Kleine fast ihr ganzes Leben in Einrichtungen der Psychiatrie und der Behindertenhilfe zugebracht hat.

Heinz Becker schildert, in seinem sehr persönlichen Vorwort, wie er Paula Kleine 1988 kennenlernte und wie Paula Kleine lebte. Was bemerkenswert ist, er beschreibt seine Zweifel, ob sie den Aufzeichnungen ihres Lebens freiwillig zugestimmt hat, oder ob dies aus einem verinnerlichten Machtgefälle zwischen Experten und Klient*in geschah. Im 2. Kapitel schreibt Becker einen kleinen Exkurs über die Einteilung in klassische und romantische Wissenschaft wie sie der sowjetische Neuropsychologe Luria vornahm. Die klassische Wissenschaft beschreibt Luria in Anlehnung an Marx und Hegel als Aufstieg im Abstrakten, die romantische Wissenschaft als eine vom Abstrakten zum Konkreten so ist eine Diagnose erst der Anfang nicht das Ende. Bei romantischer Wissenschaft nach Luria geht es nicht um Gefühlsduselei, sondern darum aus Krankheitsgeschichten Lebensgeschichten werden zu lassen, da diese immer unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen stattfinden.

Schon an dieser Stelle wird klar, dass es nicht das Ziel des Buches ist, eine persönliche Erzählung über das Leben von Paula Kleine zu schreiben, sondern eineGesellschaftsgeschichte über den Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigung.

Im 3. Kapitel beschreibt Heinz Becker die Gesellschaft vom Beginn des 1.Weltkrieg bis ins Jahr 1928, in diesem Jahr wurde Paula Kleine geboren. Im 4. Kapitel wird die frühe Kindheit von Paula Kleine kurz angerissen: Geburt am 19 Mai 1928. Ihr Vater ist 30 Jahre alt und Arbeiter, ihre Mutter 27 Jahre, vermutlich Hausfrau dazu gibt’s keine Angaben im Buch.

Paula hat drei ältere Geschwister, eine weitere Schwester wird 1929 geboren.1940 steht in einer Jugendamtsakte über Paula Kleine „das sich ihr „Schwachsinn“ schon früh gezeigt hätte, sie mit 2,5 Jahren laufen gelernt aber noch nicht gesprochen hätte. Außerdem, dass sie Schrei und Lachanfälle gehabt habe. Der Vater wird als Alkoholiker beschrieben. Im Januar 1931 wird Paula Kleine in die Erziehungs- und Pflegeanstalt Haus Reddersen aufgenommen. Ab diesem Zeitpunkt wird sie als geistig behindert betitelt.

Kapitel 5 nimmt Bezug auf Wolfgang Jantzen und es wird darauf eingegangen, wie durch Isolationserfahrungen geistige Behinderung entsteht. Jantzen weist damit schon in den 1970er Jahren nach, dass Behinderung ein Zusammenspiel zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und körperlichen oder mentalen Beeinträchtigungen dies ist eine Vorwegnahme der UN-BRK.

Nach heutigem Stand der korrekten Bezeichnung verwundert es, dass Becker vongeistiger Behinderung spricht da Betroffene selbst ja von Lernbehinderung sprechen würden. Becker stellt den Zusammenhang her, welche Erfahrungen Paulas die Ursachen gewesen sein könnten die anschließend zu Diagnose geistig behindert geführt haben.

In Kapitel 6 wird richtigerweise eingeführt, dass wir von den ökonomischen politischen und sozialen Bedingungen innerhalb der Gesellschaft abhängig sind, weil sich diese auf uns und unsere Mitmenschen auswirken. Das wiederum bezieht Becker auf das Leben von

Paula Klein, die ihr Leben lang in Institutionen verbracht hat, und deshalb werden in diesem Kapitel die gesellschaftlichen Gebiete Pädagogik, Psychiatrie, Rassenhygiene, und der eugenische Konsens vor dem Jahr 1933 in ihren Auswirkungen auf behinderte Menschen beschrieben.

Auf die Gebiete Pädagogik, Psychiatrie, und Rassenhygiene geht Becker für den Zeitraum 1850 -1933 sehr genau ein. Besonders zu betonen ist dabei die sehr gute Darstellung der Geschichte der Rassenhygiene. Es wird sehr deutlich, dass es keine Erfindung der Faschisten.

Das Kapitel 7 beschreibt die Zeit nach der Machtübergabe an Hitler. Dabei wird auf die bürgerliche Klassenstruktur und das Großkapital als Nutznießer des Faschismus hingewiesen.

Auf die Bereiche Bevölkerungspolitik, Sterilisation, die Verhinderung lebensunwerten Lebens“, Erziehung und Pädagogik, Psychiatrie sowie Rassenhygiene, werden umfassend bearbeitet und werden in ihren Auswirkungen in Beziehung zu Menschen mit Beeinträchtigungen gebracht.

Auch In Kapiteln 9 und 11 geht es um „Vernichtung lebensunwertem Leben“. Dabei werden dessen verschiedene Fassetten, von der aktiven Tötung bis zum Hungerkosterlass angesprochen. Die Kapitel 8, 10 und 12 beschreiben das Leben in den verschiedenen Heimen von Paula Kleine in den Jahren 1931-1945. Dabei wird ihr Leben

in der herrschenden Ordnung verortet. Im Kapitel 13. wird auf die Konzepte von Salutogenese und Resilienz im Hinblick auf Paula Kleine eingegangen und angewendet. Ob das Resilienzkonzept in diesem Fall eine sinnvolle Methode ist, bezweifle ich. Ich befürchte eher, dass das Resilienzkonzept den inklusiven Anspruch auf Veränderung der Gesellschaft blockiert und all die Last der Anpassung in kapitalistischer Verwertungslogik beim Individuum ablädt.

In Kapitel 14 beschreibt ein realistisches Bild der BRD nach 1945, es kommt ohne Totalitarismustheorie und Kalter Kriegsrhetorik aus, dafür wird der Einfluss von Altnazis in der BRD klar benannt. Heinz Becker geht dabei auf die Prozesse gegen die Verantwortlichen der Euthanasiemorde ein und auf deren überwiegend unbehelligtes

Praktizieren in der jungen BRD. Man erfährt dabei einerseits, dass diese Altnazis für Verdienste in der BRD sogar ausgezeichnet, teils sogar mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurden. Andererseits wird auch thematisiert, dass die Opfer nicht entschädigt wurden und welche Gründe dafür angeführt werden. Dass die Verantwortlichen der Euthanasie sogar von den West Alliierten in die Ausschüsse berufen wurden, welche neue Gesetze zur Sterilisierung erarbeiten sollten, wird ebenfalls benannt.

Deutlich wird dadurch, dass sich eugenisches Gedankengut nicht mit der Befreiung vom Faschismus erledigte. In Kapitel 15 geht es um den Zeitraum 1958-1973 und die  gesellschaftlichen Veränderungen in dieser Zeit. Der wesentliche Aspekt für Becker ist dabei vor allem die sogenannte Heimbewegung in den Jugendhilfeeinrichtungen, welche zunächst aber keine Auswirkung auf die Behindertenheime hatte. Die ersten Veränderungen in diesem Bereich sind Eltern zu verdanken, da durch sie die Gründung von Selbsthilfeorganisationen angestoßen wurde.

Dass es auch dabei Schattenseiten gab wird deutlich, wenn man erfährt das am Aufbau z.B. der Lebenshilfe mit Werner Villinger ein ehemaliger Täter des Euthanasieprogramms beteiligt, war. Er wurde Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats dieses Selbsthilfeverbandes. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Villinger

Die Frage, ob Villinger Beiratsmitglied wurde, obwohl die damaligen Gründungseltern seine Vergangenheit kannten, oder ob diesen dieser Sachverhalt unklar war, wird nicht beschrieben. Die Stellungnahmen welche die Lebenshilfe dazu herausgab, benennt diesen Tatbestand ebenso wenig. Erwähnung findet im Buch auch, dass sich zu dieser Zeit der Begriff „geistig behindert“ durchsetzt und damit den Begriff „schwachsinnig“ ablöste.

Durch einige Elternvereinigungen z.B. Lebenshilfe wurde auch der Aufbau von Behindertenwerkstätten begonnen, eine mindestens aus heutiger Sicht kritisch zu betrachtende Entwicklung. Ob diese auch durch ihre „Berater“ beeinflusst war, die ja teils durch die faschistische Arbeitstherapie geprägt waren, ist nicht bekannt. Diese Mutmaßung ist aus meiner Sicht aber nicht abwegig.

Der Autor weist auf den Contergan Skandal und die Entstehung der Aktion Sorgenkind hin. In Kapitel 16 wird das Leben von Paula Kleine von 1945 bis 1979 beschrieben. In Kapitel 17. werden die 70ger und 80ger Jahre beschrieben. In der in der Antipsychjatrie – und der Behindertenbewegung in dieser Zeit Ansätze aus dem Ausland aufgegriffen wurden.

Dazu gehörte z.B. die Krüppelbewegung aus den USA, das Normalisierungsprinzip aus den skandinavischen Ländern und die Psychiatriereform aus Italien, hervorzuheben sind auch die Integrationsbemühungen durch Eltern, die versuchen ihre Kinder aus  Sonderschulen und Sonderkindergärten heraus zu holen und in Regelschulen und Kindergärten zu geben.

Als einem der Wissenschaftler*innen ist es Georg Feuser zu verdanken, dass es schon in den 1980gern Konzepte für die „Integrative“ Schule gab, die weit über das hinausgehen, was uns heute oft als Inklusion verkauft wird. Feuser beschrieb damals Prinzipien der integrativen Bildung. Diese waren: Kooperation, innere Differenzierung und Arbeiten am gemeinsamen Gegenstand. Daraus folgt, es braucht die Überwindung eines Schulsystems, dass auf Vielgliedrigkeit, Selektion, Segregation und strenge Jahrgangsbindung zu Gunsten einer „Schule für Alle“ setzt.

Feuser bezog damals denBereich Arbeit in seine Überlegungen ein. Heinz Becker weist auch auf den Missbrauch des Wortes Integration hin, durch das alles, was mit behinderten Menschen heute passiert, als integrativ bezeichnet wird meines Erachtens muss heute aufgepasst werden, dass dies nicht mit dem Wort „Inklusion“ passiert, Tendenzen dahin sind heute bereits wahrnehmbar. Siehe dazu:

https://inklusion-statt-integration.de/inklusiver-bildung-inklusive-pos/

Im Buch wird auch auf die Krüppelgruppen und ihre Aktionen eingegangen. Diese Gruppen, welche von körperlich beeinträchtigten Menschen getragen wurden, grenzten sich zuweilen von den durch Eltern behinderter Kinder gegründeten Vereinigungen deutlich ab. Die 1980ger Jahre waren die Hochzeit einer selbstorganisierten Behindertenbewegung mit teils spektakulären Aktionen. Auf die Proteste gegen das Frankfurter Urteil vom 25.2.1980

https://kobinet-nachrichten.org/2020/05/08/8-mai-1980-erinnerung-an-demo-gegen-frankfurter-reiseurteil/

und gegen das „Jahr der Behinderten“ 1981 geht Becker sehr ausführlich ein. Becker beschreibt die Prinzipien des Normalisierungsprinzips diese setzte sich zu jener Zeit in den Behinderteneinrichtungen immer mehr durch, diese Prinzipien sind.

1. ein normaler Tagesrhythmus

2. ein normaler Wochenrhythmus

3. einen normalen Jahresrhythmus

4. normale Erfahrungen im Ablauf des Lebenszyklus

5. normalen Respekt vor dem Individuum und dessen Recht auf Selbstbestimmung

6. normale sexuelle Lebensmuster ihrer Kultur

7. normale ökonomische Lebensmuster und Rechte im Rahmen gesellschaftlicher Gegebenheiten

8. normale ökonomische Umweltmuster und Umweltstandards innerhalb der Gemeinschaft.

Darüber hinaus geht der Autor auf die Psychiatriereform ein. In diesem Zusammenhang geht der Autor in den Kapiteln 18 – 20 auf die Geschichte und Zustände im Kloster Blankenburg ein. Dafür beschreib er das Leben von Paula Kleine in dieser Einrichtung 1979-1988 und er beschreibt den Prozess wie diese Einrichtung aufgelöst wurde, an diesem Prozess war er beteiligt. Im Kapitel 21 beschreibt der Autor die 90ger Jahre. In Kapitel 22 geht der Autor auf die Bedeutung der Gebiete Wohnen, Arbeit und Kunst für den Menschen ein. Becker geht dabei auch auf die Bedeutung von Arbeit und Kunst in der Behindertenarbeit ein. Was mich erstaunt ist, dass in dem Abschnitt Arbeit“ kein Verweis auf Marx + Engels bzw. Luria kommt. Verlässt hier den Autor der Mut?

https://inklusion-statt-integration.de/das-potenzial-von-arbeit-bei-behinderten-menschen/

In Kapitel 23 beschreibt der Autor, wie Paula Kleine einen kleinen Schritt aus einem Leben in Einrichtungen der Behindertenhilfe in ein selbstbestimmteres Leben in einer betreuten Wohngemeinschaft macht. Sie ist zu diesem Zeitpunkt bereits 61 Jahre alt. Becker beschreibt, welche Bedeutung Wohnen, Arbeit und Kunst für Paula Kleine hat. Besondere Bedeutung hat dabei das Theaterspielen, was in einer Rolle im Film „verrückt nach Paris“ mündet.Im Kapitel 24 schreibt der Autor über Selbstbestimmung und Assistenz. Er äußert sich ausführlich zum Thema Selbstbestimmung und stellt überzeugend dar, wie Assistenz in das Konzept von Selbstbestimmung passt. In Kapitel 25 geht es um das personenzentrierte Konzept. Kapitel 26 beschreibt er die behindertenpolitischen Entwicklungen der 2010 Jahre.

Als deren wichtigste Entwicklung hier die Folgen aus der UN-BRK benannt werden. Diese beschreibt der Autor sehr ausführlich. Im Kapitel 27 schreib Becker über Inklusion und Teilhabe. Dazu führt er aus, dass diese zwei Dinge nur gemeinsam denkbar sind, da aus Inklusion Teilhabe folgt. Im Kapitel 28 werden Diskurse zu Rassenhygiene, Eugenik und Humangenetik erbracht. die es nach dem Ende des Faschismus in Deutschland gab.

Im Kapitel 29 geht es um die letzten Jahre von Paul Kleine, die am 25.4.2014. starb. Die letzten drei Kapitel lassen sich als Fazit lesen. Mein Fazit zu diesem Buch ist: Mich überzeugt sowohl die klar antikapitalistische Haltung des Autors in den sozialpolitischen Diskursen, welche seine Einschätzungen der gesellschaftlichen Diskurse um Beeinträchtigung/Behinderung prägen, als auch die Form des Buches, die Lebensgeschichte von Paula Kleine in einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen.

Den Titel finde ich sehr schlecht gewählt da er einen schlechten Wortwitz auf Kosten der Protagonist*in macht und eine Erwachsene Frau verkindlicht. Das ist meiner Ansicht nach eine Diskriminierungsform, die Menschen mit sog geistiger Beeinträchtigung immer wieder über sich ergehen lassen müssen.

Trotzdem, dieses Buch sollte Pflichtlektüre für alle Menschen sein, welche ihren Arbeitsbereich in der Arbeit mit behinderten Menschen sehen.

Paula Kleine

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