Erfahrung Rojava Edition Verlag Edition AV eine Rezension

In dieser Rezension bespreche ich das Buch „Erfahrung Rojava“ aus dem Verlag Edition AV. Mit „Erfahrung Rojava“ ist ein 250 Seiten umfassender Sammelband über die Revolution in Nord – und Ostsyrien erschienen. Herausgeber ist der Wiesbadener Notarzt und Psychotherapeut Michael Wilk, der die Region seit 2014 häufig bereist hat und gerade dann vor Ort war, wenn wie bei der türkischen Invasion 2019, Hilfsorganisationen und Journalist*innen die Flucht ergriffen.

Das Buch enhält Beiträge von Michael Wilk, Nujin, Torsten Lengfeld, Elke Dangeleit, Peng, Beriwan Al-Zin, Thomas Lutz, Meryem und Tom

Im Vorwort des Buches beschreibt Michael Wilk die Komplexität des Kampfes um die Befreiung Rojavas. Er beschreibt die allumfassenden Ansprüche, die diesen Prozess ausmachen: Emanzipation der Menschen, vor allem die Befreiung der Frauen, die Umsetzung basisdemokratischer Prinzipien, das Ringen um territoriale Autonomie letzteres umfasst den Widerstand gegen das Assad-Regime, den Kampf gegen den IS und die Bedrohung durch das türkische Erdogan-Regime.

Wilk unterstützt diesen Kampf seit 2014, er sagt dazu:

… „der Kampf um Kobane hatte mich zu meiner ersten Reise veranlasst, seit dem unterstütze ich den Kurdischen Roten Halbmond, Heyva sor a kurd. Oft mehrfach im Jahr fahre ich nach Nord-Ostsyrien, zuletzt im April 2021. Die Corona-Pandemie hatte in Rojava Einzug gehalten. Die Situation im Washokani Hospital, eine ehemalige Hühnerfarm, umgebaut in ein Corona-Notfallkrankenhaus, war bedrückend“.

Im 1. Kapitel schildert Michael Wilk seine Aufenthalte in Rojava zwischen 2014 und 2021. Sind sehr aufschlussreich. Besonders beeindruckend an seinen Schilderungen finde ich, wie die Selbstverwaltung in Rojava versucht trotz Mangel ein Gesundheitswesen für alle aufzubauen und dabei von den bedürftigsten Menschen herdenkt.

Was mich an Wilkes Äußerungen etwas stört ist sein Antikommunismus verbunden mit dem ständigen Betonen, Anarchist zu sein. Dies führt, aus meiner Perspektive, zu einer absurd „kritischen“ Haltung zu den, bei den kurdischen Kämpfer*innen vorhandenen Verehrung, Abdulla Öcalans.

Fünf der Beiträge im Buch wurden von Männern, vier von Frauen verfasst. Zwei der Autorinnen sind Kurdinnen, deren Familien nach Deutschland gingen, bzw. fliehen mussten. Manche Namen mussten aus Sicherheitsgründen geändert werden, die Autor*innen versichern, dass die Inhalte der Beiträge der Realität des Erlebten entsprechen.

Erfahrung Rojava“ ist ein Buch mit Berichten aus der Solidaritätsarbeit“ und stellt nur die Sicht derer dar, die Solidaritätsarbeit leisten. Was mir an dieser Stelle fehlt, sind Schilderungen der Solidaritätsarbeit aus Sicht der Menschen in Rojava“.

Im zweiten Kapitel setzt sich Nûjîn mit ihren Beweggründen auseinander, warum sie nach Rojava ging. Sie reflektiert dabei die Geschichte der kurdischen Freiheitsbewegung und sie setzt sich kritisch mit der Solidaritätsbewegung auseinander. Nûjîn hat dabei die Perspektive einer Kurdin, welche in Deutschland aufgewachsen ist.

Im dritten Kapitel setzt sich Torsten Lengfeld mit seiner Arbeit als Physiotherapeut auseinander. Er beschreibt dabei den hohen Stellenwert der im Krieg getöteten und den verletzten Kämpfer*innen. Der Fokus ist dabei auf den solidarischen Umgang mit ihnen gelegt. Zur Zeit, als der Bericht entstanden ist, waren es geschätzte 30.000 kriegsverletzte Kämpfer*innen. Spannend am Bericht Thorsten Lengfelds ist auch, dass die meisten verletzten Kämpfer*innen mit ihren verletzten Genoss*innen in den „Häusern der Verletzten“ wohnten und nicht zu ihren Familien zurückwollen. Vor allem Frauen befürchten, von ihren Familien in die konservative Rolle der Frau zurück geworfen zu werden, und dort von kriegsverletzten Revolutionär*innen zu behinderten Menschen gemacht werden könnten.

Die „Häuser der Verletzten“ sind Einrichtungen der autonomen und selbstverwalteten Strukturen Rojavas. Die Verletzen sind weiterhin Teil der revolutionären Verteidigungskräfte YPG YPJ. In den Häusern der Verletzten wohnen und arbeiten fast ausschließlich selbst Verletzte. Das gehört zum Konzept der Selbstverwaltung dazu.

Dass die kriegsverletzten Kämpfer*innen lieber in den selbstverwalteten „Häusern der Verletzten“ wohnen wollen, ist für die Deutsche Behindertenbewegung eine spannende Perspektive. Und zwar deshalb, weil es ja in Deutschland eine der wichtigsten Forderung der Behindertenbewegung ist, ein Leben in der eigenen Wohnung mit persönlicher Assistenz fzu führen zu können.

Ob diese Art der selbstverwalteten Häuser ein Modell in einer inklusiven Gesellschaft sein könnte, wird sich zeigen. Thorsten Lengfeld äußert auch Kritik an den veralteten Methoden der Physiotherapie. Um dies zu ändern gab er Schulungen in Rojava Thorsten Lengfeld äußert die Hoffnung, dass sich die Sicht auf beeinträchtigte Menschen allgemein ändert. Noch gilt aber in Rojava, dass Beeinträchtigung wenn sie nicht im Kampf erworben wurde, sondern z.B bei Geburt bereits vorlag, oft als Strafe Gottes.

Im vierten Kapitel gehts um Städtepartnerschaften zwischen Städten im Nord- und Ostsyrien.

Im fünften Kapitel beschreibt Peng die Herausforderung mit der Physiotherapie in Rojava. Peng spricht über den Aufbau eines demokratisch kontrollierten Gesundheitssystems seit 2012 und dessen hohe Anerkennung bei der Bevölkerung. Peng spricht von 22.000 Menschen in Rojava die eine Psychotherapeutische Diagnose haben. Die häufigsten sind Verletzungen sind dabei an der Wirbelsäule, am Rückenmark, bzw. am peripheren Nervensystem, bzw. kognitive Einschränkungen, welche vor allen durch Schusswunden am Kopf und Amputationen.

Peng arbeitete in einem „Haus der Verletzen“ er beschreibt eine solche Einrichtung und seine Arbeit dort näher.

Im sechsten Kapitel äußert sich Beriwan Al-Zin über ihre Beweggründe nach Rojava zu gehen und ihre Erfahrungen, die sie dort machte. Sie tut dies als eine in Deutschland aufgewachsene Kurdin. Besonders berührend empfinde ich die Schilderungen über ihren Gefängnisaufenthalt, den sie ertragen musste, weil sich die Nordirakische Regierung damit einen Vorteil versprach. Besonders wütend machte mich, dass der Nordirak eine kurdische Region ist aber der dort Regierende Barsani Clan beste Beziehungen zur Türkei hat und die Syrischen Kurd*innen seit Jahren verrät. Siehe dazu auch:

https://anfdeutsch.com/kurdistan/protest-in-semalka-barzani-begeht-verrat-am-kurdischen-volk-28789

Beeindruckt hat mich in besonderem Maße das siebte Kapitel in dem Thomas Lutz seine Aufenthalte in Rojava schildert. Er ist Traumapädagoge.

Ich bin beeindruckt darüber wieviel Aufmerksamkeit der Bereich Bildung und Erziehung erhält und der Aspekt der Traumapädagogik von der Selbstverwaltung in Rojava mitgedacht wird.

Wohl die größten Behinderungen erfährt Rojava durch die Invasionen der Türkei und ihrer Verbündeten, aber auch durch die Angriffe der Assad Regierung und ihren Verbündeten ebenso wie durch den Verrat und dem daraus folgenden Embargo der Barzani Regierung im Nordirak.

In diesem Kapitel habe ich auch erfahren, dass es auch frühkindliche Bildung in Kitas für behinderte Kinder gibt, leider scheinbar noch in exklusiven Strukturen.

Ich hoffe, dass sich dies durch die Stabilisierung der Situation und des revolutionären Prozesses noch ändern wird. Ich bin da auch recht optimistisch.

Im Achten Kapitel geht Meryem Tuutiy auf ihre Erfahrungen ein und beleuchtet dabei den Aspekt was Gesundheit ist. Meryem ist als Sanitäterin im Einsatz, über den Aufbau des Gesundheitssystems schreibt sie, dass es Akademien für die Ausbildung gibt und kostenlose Volkskrankenhäuser in kleineren Städten und Dörfern. Allerdings fehlt es den Gesundheitshäusern an Material und Personal. Der revolutionäre Anspruch an Gesundheit ist dabei ein ganzheitlicher. Das bedeutet, dass Gesundheit nicht losgelöst vom gedanklichen und emotionalen Zustand der Gesellschaft ist. Sehr aufschlussreich finde ich zum einen ihre Gedanken und Kritik daran, dass ausländische NGOs den Aufbau selbstverwalteter Gesundheitsstrukturen teils behindern, zum zweiten darüber, welche Diskussionen es um die gleiche Bezahlung von Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen gibt.

Im 9. und damit letzten Kapitel beschreibt Tom, warum er nach Rojava ging und wie er als Pysiotherapeut anfing. Dieses Kapitel ist für mich das schwächste. Mich nervte, wie Tom seine Patient*innen hauptsächlich als Opfer wahrnimmt.

Mein Fazit für dieses Buch: Besonders begeistert haben mich die Schilderungen, wie die verletzten Revolutionär*innen sich in erster Linie als revolutionäre Subjekte verstehen und erst in zweiter Linie als beeinträchtigte Menschen, und wie sie reflektieren welche gesellschaftliche Strukturen sie zu behinderten Menschen machen und welche nicht.

Ich empfinde es insgesamt als sehr lesenswert und kann es nur empfehlen!

Rojava

 

 

 

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