Autismus: ,, Das fragile Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein“

Im Info 3 Verlag ist 2020 das Buch „Das fragile Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein“ der Autorin Pascale Karlin erschienen. Der Untertitel lautet: eine Innensicht des Autismus. Die Autorin Pascale Karlin,1969 ist in Basel geboren, ist Sozialpädagogin und arbeitet seit 2005 mit Menschen mit Beeinträchtigung. Seit 2016 arbeitet sie als Dozentin zum Thema Autismus und Kommunikation unter erschwerten Bedingungen: Seit 2017 ist sie auch selbständige Fachberater*in für Autismus. Sie ist selbst Autist*in. Der Verlag schreibt über sie „damit ist Pascale Karlin ein Glücksfall als Beraterin“ dem Verlag ist in diesem Punkt zuzustimmen denn Berater*innen in eigener Sache sind eher selten und deshalb immer ein Glücksfall. Nelli Riesen, auch sie ist Autist*in, schreibt im Vorwort über ihre Erfahrungen als Autist*in, die nicht Lautsprachlich kommuniziert und welche Barrieren dadurch entstehen. Sie beschreibt, wie positiv es sich auswirkte, auf unterstützte Kommunikation zurückgreifen können. Sie beschreibt auch, wie ihr durch die fehlende Sprache innerlich Begriffe fehlten und was das für sie bedeutete. Nelli Riesen fordert neurotypische Menschen zu einer klaren schnörkellose Sprache auf. Pascale Karlin schreibt in der Einleitung das es nicht ihr Ziel ist auf alle Symptome des Autismus einzugehen. Ihr Anliegen sei vielmehr auf die Hintergründe dieser Symptome einzugehen. In diesem Zusammenhang stellt sie fest, dass viele Autist*innen ihre Symptome, und auch die Situationen in denen diese auftauchen, beschreiben können aber die Hintergründe nicht. Pascale Karlin kritisiert die Forschung zu Autismus, die aus kleinen Puzzleteilen besteht und oft nicht zusammenhängend gedacht wird. Sie schreibt das sie mit ihrem Buch das Gemeinsame, aller Menschen mit Autismus beschreiben möchte, mit dem diese zwar individuell aber dennoch kollektiv konfrontiert sind. Dieses Gemeinsame ist laut Pascale Karlin die Art der Selbstwahrnehmung. Sie weist auch daraufhin wie sie das Wort „Ich“ verstanden wissen will. Aus ihrer Sicht als Autist*in nämlich ausschließlich „als erste Person Singular“ und nicht als gefühltes Selbst. Unter diesem Selbst versteht sie ein einheitliches, konsistent fühlendes, denkendes und handelndes Wesen. Dieses Selbst hat für sie die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung in Bezug auf Empfindungen und ist eine Verstärkung zur Reflexion und Betonung des Begriffs „Ich“. Dieser Sichtweise kann ich mich anschließen. Da das Buch in einem anthroposophischen Verlag erschienen ist, ist dieser Hinweis aber sehr notwendig, da in der Anthroposophie das entwickelte „Ich“ zur Philosophie gehört. P. Karlin beschreibt ihre Wahrnehmung von neurotypischen Menschen so „Es ist so, dass ich die unterschiedlichen Ebenen des Menschen in einer Art Struktur bildlich wahrnehme“. Bei der Beschreibung wie sie Menschen wahrnimmt verweist sie auch Temple Grandin. Die mit ihrem Buch „Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier“ auch mir ein tieferes Verständnis von Autismus verschafft hat. https://inklusion-statt-integration.de/temple-grandin-das-maedchen-das-in-bildern-dachte/ Im Kapitel Autismus – ein individueller Lebensweg, schreibt Pascale Karlin was ihr Anliegen ist mit diesem Buch nämlich den Fragen nach zugehen. 1. Warum ist es so schwierig, Autismus zu verstehen? 2. Was sind „alternative Autismus“ geeignete Kommunikationsmittel? 3. Wie sieht eine Autismus freundliche Begleitung aus? 4. Darf Autismus sein? Dass die 4. Frage von Karlin noch nicht eindeutig mit Ja beantwortet werden kann, sollte uns meiner Ansicht an unserem Gesellschaftssystem zweifeln lassen! Die Autor*in stellt fest, dass bei sogenannten autistischen Symptomen, wie selbstverletzendes Verhalten, Schreien, stereotype Bewegungen usw. oft die Erklärung fehlt, warum diese in bestimmten Situationen auftauchen. Sie stellt an die Leser*innen die Frage, ob diese sich schon mal gefragt hätten, wie es für Menschen mit Autismus sein muss dass Leid, den Schmerz, die Angst und Verunsicherung der neurotypischen Menschen um sich herum miterleben zu müssen, die diese in Bezug auf Autismus haben? Karlin gibt Auskunft darüber, was für ein Problem es ist, als Autist*in nicht als Individuum wahrgenommen zu werden, sondern als Autist*in „wie sie im Buche steht“. Auch weist sie zurecht darauf hin, wie problematisch es ist, wenn Journalist*innen das Wort autistisch als Wort nutzen um Missstände im Sinne egoistischen Verhaltens anzuprangern. Hierbei muss sich Pascale Karlin eine gewisse Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Phänomenen vorwerfen lassen, weil sie schreibt „Niemandem würde es in den Sinn kommen, die heute verbreitete Leseschwäche als geistig behindert oder eine körperliche Ungeschicklichkeit als spastisch zu bezeichnen“. Damit lässt sie den Schluss zu, dass andere Beeinträchtigungen nicht in herabwürdigender Art und Weise als Metaphern verwendet werden. Dies ist aber falsch! Im Kapitel „Was ist Autismus“ wendet sie sich klar gegen das Phänomen des „sind wir nicht alle ein bisschen autistisch“. Sie tut dies in sehr überzeugender Weise. Sie grenzt sich vom Begriff der Autismus-Spektrum-Störung ab bezieht sich aber dabei nicht auf den Begriff der Störung, sondern auf den des Spektrums. Ihre Kritik setzt dabei darauf, dass Autismus als Spektrum, was ja von einer Spannbreite und nicht von klar abgegrenzten Arten von Autismus ausgeht, genau dem Phänomen des „sind wir nicht alle ein wenig autistisch“ Vorschub leistet. Sie fordert, an den klaren einzelnen Autismus-Arten festzuhalten. Dies wird, genau wie ihre Nutzung der Bezeichnung des „hochfunktionalen Autismus“, mit Sicherheit auf Widerspruch bei anderen von Autismus Betroffenen stoßen. Ihre Eingrenzung des Autismus auf eine angeborene, neuronale Veränderung, ist schlüssig erklärt. Denn sie grenzt diese damit deutlich von, z.B. nach einer Gehirnhautentzündung, auftretenden mentalen Veränderungen ab, die oft als atypischer Autismus bezeichnet werden.

P. Karlin erklärt sehr überzeugend warum ein übersteigerter Egoismus und Autismus sich ausschließen, wenn sie dies mit der beeinträchtigten Selbstwahrnehmung von Autist*innen, erklärt. Im Kapitel „die Geburt des Autismus“ werden Strategien genannt, die Autist*innen von Geburt an nutzen, um die reduzierte Selbstwahrnehmung auszugleichen und sich mit der Umgebung zu verbinden. Dieser Abschnitt gibt meines Erachtens Hinweise darauf, wie ein positiver Umgang der Umgebung mit Autist*innen und ihren Verhaltensweisen erfolgen könnte. Die Selbstwahrnehmung von sich und den eigenen Gefühlen bei Autist*innen beschreibt die Autor*in in einem weiteren Kapitel. Auch die Beschreibung, wie Autist*innen ihre Mitmenschen wahrnehmen, erfolgt. Karlin schreibt über ihre Wahrnehmung vor ihrer Autismus-Diagnose, dass sie über neurotypische Menschen dachte, diese hätten in folgenden Bereichen Schwierigkeiten                                 

1. Im Bereich Gegenseitigkeit n der sozialen Interaktionen: kein angemessenes Nähe-Distanz-Gefühl; Blickkontakt beim Sprechen; von ihrem eigenen Standpunkt ausgehend; Tendenz zum Lügen und Betrügen; Gewaltbereitschaft; sich gegenseitig umarmen und küssen..

2. im Bereich Kommunikation und Sprache: indirekte Kommunikation, unklare Kommunikation; falsche Begriffe wählen, um etwas zu sagen; Dinge sagen, die unwichtig sind; wichtige Dinge nicht erwähnen; oft unsachlich und Ich-zentriert; unfähig mit Tieren zu kommunizieren.

3. Auffällige Interessen und Aktivitäten: Spielen mit Puppen, so tun, als ob Spiele, Kino und Konzerte besucht werden; fehlendes Interesse an Naturwissenschaft.

Hier ausdrücklich die Sicht von Autist**innen zu übernehmen, um darüber das Normale als defizitär erscheinen zulassen, ist ein sehr gelungener und inklusiver Ansatz. Sie schreibt über ihre Wahrnehmung in Bildern und welche Auswirkungen es hat, wenn sie von nicht Autist*innen Gesagtes nicht in Bilder übersetzen kann. Sie beschreibt auch, warum wegen dieser Art der Wahrnehmung Autist*innen der Umgang mit Tieren und der Natur oft leichter fällt, als der mit Menschen. Autist*innen nehmen im Gegensatz zu neurotypischen Menschen ihre Umwelt vom Detail zum Ganzen wahr und nicht umgekehrt wie neurotypische Menschen dies tun. Es folgt ein Kapitel mit dem Titel „Das fragile Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein“. Dieses Kapitel ist nicht nur, weil es den Titel des Buches aufnimmt, ein zentrales Kapitel, sondern auch, weil es darstellt wie Autist*innen die Umwelt wahrnehmen und was das mit ihrer Selbstwahrnehmung zu tun hat. Die Leser*innen, erfahren das Autist*innen sich diese Selbstwahrnehmung als „Ich“ immer wieder bewusst machen müssen. Auch beschreibt die Autor*in was das Ich-Bewusstsein mit dem Du als Gegenüber zu tun hat. Zu lesen ist dabei auch, weshalb die autistische Wahrnehmung trotzdem „richtig“ ist. Eine plausible Erklärung, wobei es nicht darauf ankommt ob Mensch mit dem anthroposophischen „Ich“- Begriff und seiner Entwicklung voll und ganz mitgeht oder nicht (ich tue dies nicht), liefert die Autor*in zu Sprache und Kommunikation bei Autist*innen. Die Autor*in weist plausibel auf den Zusammenhang zwischen Zeitempfinden-Impulskontrolle-Handlungsblockaden und Selbstwahrnehmung bei Autist*innen hin. Die Themen Autismus und Erinnerung, Gefühle und Autismus, Alter und Autismus, kommen ebenfalls zur Sprache.

Es gibt auch ein Kapitel mit dem Titel „hat Autismus eine Bestimmung?“ in diesem verweist sie auf die Darstellung bei ägyptischen Statuen und vergleicht diese mit der Wahrnehmung von Autist*innen und stellt einen Zusammenhang in der Selbstwahrnehmung feststellt. Dabei geht sie so vor, dass sie einen Zusammenhang zwischen der Epoche des Alten Ägyptens, wo noch jeder wusste wo sein Platz in der Gesellschaft ist, und der Jetztzeit herstellt. Dabei stellt sie unsere heutige egoistisch individualistische Lebensweise in Frage. Dass sie dabei Sklaverei relativiert ist aus meiner Sicht problematisch. Erfreulich ist (ich hatte etwas anderes befürchtet), dass sie Autist*innen nicht auf einer esoterisch begründeten Mission sieht, sondern den genetischen Ursprung von Autismus für wahrscheinlich hält. Für wesentlich, aufgrund der momentanen Situation und der heutigen Zeit, ist für mich ihr Hinweis, dass Autismus nicht durch impfen verursacht wird.  Als eine von vielen anderen Büchern über Autismus kann ich das Buch gerade für Eltern wirklich sehr empfehlen! Für Eltern aus dem Umfeld der Waldorfschulen ist es gerade wegen des letzten von mir angeführten Punkt geradezu ein Muss.

Arbeit Inklusion statt Integration Sexualassistenz

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