Beim Thema Inklusion spielen „totale Institutionen“, wie Heime, Sonderschulen, Behindertenwerkstätten, Psychiatrien, und Gefängnisse, eine besondere Rolle. Denn bei diesen Einrichtungen stellt sich die Frage nach ihrer Berechtigung beziehungsweise die Frage nach ihrer Überwindung. An dieser Stelle möchte ich deshalb die Schriftenreihe „Gegendiagnose“ aus der Edition Assemblage die sich mit Beiträgen aus der Antipsychiatriebewegung beschäftigt, vorstellen. Dies Reihe Gegendiagnose besteht bisher aus zwei Bänden, der dritte Band von Gegendiagnose ist gerade in Planung. Im ersten Band, von Gegendiagnose der 2015 erschien, schreibt Nina U ein Vorwort mit dem Titel „Crazyshit“. In diesem Vorwort geht es um die Notwendigkeit und Aktualität linker Psychiatriekritik. In der Einleitung der Herausgeber*innen Cora Schmechel/Fabian Dion/Kevin Dudek/Mäks* Roßmöller kritisieren diese, meines Erachtens zu Recht, dass die Kritik an der Institution „Psychiatrie“ in der radikalen Linken keine Aufmerksamkeit mehr bekommt und die Psychiatrie eine Normalisierung erfährt. Die Autor*innen machen deutlich, dass das vorliegende Buch eine Grundsätzliche Kritik der Psychiatrie enthält. Sie machen auch klar, wie das System der Psychiatrie mit anderen Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft, z.B. mit dem Thema Rassismus, verwoben sind. Darüber hinaus wird ein Überblick über die drei Blöcke, die das Buch gliedern, gegeben.
Der erste Block enthält Analysen zur Funktion der psychiatrischen Institution und Diagnosen in einem kapitalistisch rassistischen System.
Der zweite Block beschäftigt sich mit der Kritik an konkreten Diagnosen und Konzepten.
Im dritten Block geht es um einen linken kritischen Blick auf Psychiatriekritik um dies zu erneuern.
Das erste Kapitel des 1. Bandes der Schriftenreihe Gegendiagnose beschäftigt sich mit „der Herrschaftsförmigkeit der Psychiatriereform “ in den 1970 Jahren und dabei im Besonderen um die sogenannte Gemeindepsychiatrie. Es wird die Frage diskutiert und beantwortet, ob es bei dieser Reform um eine Änderung der Ziele von Psychiatrie ging oder nur um eine Anpassung der Strukturen im Sinne des sich wandelnden Kapitalismus. Dabei wird auch eine gewisse Humanisierung der Psychiatrie zugestanden.
Warum im Titel das Wort inklusiv steht und im Kapitel selbst teils von Inklusion gesprochen wird, erschließt sich mir nicht. Meiner Ansicht nach war diese Reform maximal auf das Konzept der Integration ausgerichtet. Das Konzept der Inklusion wird, durch diese Verflachung meines Erachtens, somit bewusst und ohne Not dem neoliberalen Zeitgeist überlassen.
Im zweiten Kapitel des ersten Blocks „Diagnose: Gesellschaftlich unbrauchbar mit Aussicht auf Heilung Analyse und Kritik der heutigen Psychiatrie in ihrer Parteilichkeit für die herrschende bürgerlich – kapitalistischen Verhältnisse.“
Darin wird kritisiert, dass bei „psychischen Störungen“ nicht der Individuelle Leidensdruck die Hauptrolle spielt, sondern die Abweichung von einer konstruierten Norm, die sich hauptsächlich an der nicht mehr gegebenen oder eingeschränkten Verwertbarkeit orientiert. Kritisiert wird auch, dass bei psychischen Erkrankungen nicht Ursachen, sondern Symptome im Mittelpunkt stehen.
Im dritten Kapitel „Psychopathologiesierung und Rassismus – eine feministische Perspektive“ geht Esther Mader sehr aufschlussreich auf den Zusammenhang zwischen Psychopathologisierung und Rassismus und die dafür nötige Konstruktion einer Norm ein.
Im vierten Kapitel „Wenn es der Wahrheitsfindung dient… Zu rechtswidrigen Gründen und Verfahren bei psychologischen Gutachten bei Erwerbslosen“ schreibt Anne Allex über den Anstieg von psychologischen Begutachtungen von Arbeitsuchenden Menschen und wie diese zur Stigmatisierung der selbigen genutzt wird. Diese Begutachtungen verdoppelten sich beinahe zwischen 2006 und 2010.
Das Konstrukt was dafür herangezogen wird ist die sogenannte Arbeitsfähigkeit. Wird diese bei den Gutachten nicht festgestellt, kann dies zur Einweisung in eine Behindertenwerkstatt führen.
Die Zahlen der Beschäftigten in Behindertenwerkstätten steigt kontinuierlich an. Auch Menschen mit anderen Beeinträchtigungen werden immer häufiger von Arbeitsvermittler*innen durch die Diagnose „arbeitsunfähig“ in Behindertenwerkstätten abgedrängt.
Anmerkung von mir: Deutschland ist durch die UN-Behindertenrechtskonvention, welche 2009 durch die BRD ratifiziert wurde, eigentlich verpflichtet die Behindertenwerkstätten abzuschaffen.
Im 2. Block des Buches geht es um Kritik an bestimmten Diagnosen und psychologischen Konzepten. So schreibt z.B. Daniel Sanin im 1. Kapitel über die Entstehung und Funktion des „Diagnose Abhängigkeitssyndrom im Kapitalismus aus kritisch psychologischer Sicht“ Daniel Sanin verweist dabei auf die gesellschaftliche Konstruktion von Sucht, und wie zu verschiedenen Zeiten verschiedene Substanzen oder Verhaltensweisen unterschiedlich als Sucht oder als normales Verhalten anerkannt werden oder wurden.
Das 2. Kapitel geht um das Thema „Diagnosen von Gewicht – Innerfamiliäre Folgen der Ermordung meiner als lebensunwert diagnostizierten Urgroßmutter“ beschreibt Andreas Hechler am Beispiel der Urgroßmutter, welche Folgen deren Ermordung im 3.Reich für die nachfolgenden Generationen hatte. Er bleibt dabei aber nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern geht auch auf die Erinnerung an die T4-Ermordeten im Allgemeinen ein. Hecht beschreibt auch, was die Form des Erinnerns mit immer noch vorhandenen diskriminierenden Strukturen zu tun hat. Andreas Hechler geht darauf ein, was die Diagnose „Arbeitsscheu und Arbeitsunfähig“ mit den T4 – Morden zu tun hatten.
Im 3. Kapitel „Trauma-Konzepte im Spannungsfeld zwischen psychischer und gesellschaftlicher Störung“ geht Catalina Körner auf die Problematik von Opferschaft am Beispiel der Kollektive Deutsche Kriegstraumata ein. Catalina Körner betont die Verwobenheit von Traumataerfahrungen. Sie beschreibt die sozialrechtliche Bedeutung von Traumata bei z.B. Anerkennung in Asylverfahren und stellt die Frage, wer hat die Macht zu definieren was traumatisierende Erlebnisse sind? Damit wird auch verbunden, wer die Macht zu entscheiden hast, was nur ein individuelles traumatisches Erlebnis ist oder ob eine gesellschaftliche Struktur dahinder steht, ob also z.B. sexualisierte Gewalt Ausdruck von sexistischen Machtverhältnissen ist.
Aufschlussreich ist dabei die Geschichte von PTBS (Postraumatische Belastungsstörung), in deren Verlauf der Holocaust einen ersten großen Wendepunkt bedeutete. Dabei wird ersichtlich, wie die Definitionsmacht – was traumatische Erlebnisse sind – eine Frage der Machtverhältnisse sind. Denn während Überlebende des Holocaust oft gegen den massiven Widerstand der Täter*innen langwierig beweisen mussten, dass sie traumatisiert wurden und dass dies etwas mit ihren KZ – Erlebnissen zu tun hat. Für Soldat*innen der US-Armee (Anmerkung D. Horneber: einer Täter*innenarmee) hatten es nach dem Vietnamkrieg dagegen wesentlich leichter, als Opfer von Traumata anerkannt zu werden. PTBS wird ausführlich definiert.Ein wichtiger Teil des Kapitels ist die Auseinandersetzung mit dem Kollektiven Deutschen Kriegstrauma. Es wird darauf hingewiesen, dass Traumata auf eine ganze Gesellschaft, z.B. im Falle Deutschlands auf die Bombardierung Dresdens, auszuweiten bedeutet, die Vorgeschichte durch die es zu diesen Ereignissen kam klein zureden oder sogar zu leugnen soweit würde ich mitgehen Aber der Dominanzgesellschaft kollektiv eine undifferenzierte Kollektivschuld am zweiten Weltkrieg zuzuschieben leugnet meiner Ansicht nach den Klassencharakter der Gesellschaft im NS Staat und des damit verbundenen Interesse des Monopolkapitals am Krieg.
Im 4. Kapitel „Zur Ver_rückung von Sichtweisen. Weiblichkeit* und Pathologisierung im Kontext queerfeministischer psychologischer Auseinandersetzungen“ weisen Fiona Kalkstein und Sina Dittel überzeugend daraufhin, wie Weiblichkeit und Queernes pathologisiert werden, wie also Pathologisierung und Hetrosexismus zusammengehören und sie machen Anmerkungen wie Therapien aussehen müssten, um nicht heterosexistischen Mechanismen zu unterliegen.
Im letzten Kapitel des zweiten Blocks geht es um Verhaltenstherapie.
Im Dritten Block des Buchs geht es um Kritik an der Psychiatriekritik. So schreibt z.B. Mai-Anh Boger über das Trilemma der Depathologisierung. Damit ist gemeint, dass das Phänomen der Pathologisieerung als reine soziale Konstruktion zu betrachten ist, und diesem das Phänomen der Depathologisierung entgegenzusetzen sei. Mit dieser Entwicklung setzt sich Mai-Anh Boger kritisch auseinander ohne die soziale Bedingtheit von Diagnosen zu bestreiten.
Es folgt ein Kapitel über die Geschichte und Gegenwart des AK Psychiatriekritik an der NFJ in Berlin
Im Kapitel „Nazi, werde schleunigst Arzt, sonst holt der auch Dich“. Zur Shoahrelativierung in der Antipsychiatrie schreibt Kevin Dudek über die Verharmlosung der Shoah durch Gleichsetzung der NS Psychiatrie mit der Psychiatrie der 70er – 80er Jahre.
Kevin Dudek geht dabei kritisch auf einige Persönlichkeiten der Antipsychiatrie bzw. die verschiedenen Kollektive der Antypsychiatriebewegung, darunter das Sozialistische Partientenkollektiv, die Irrenoffensive, den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener ein.
Im letzten Kapitel des 1.Bandes der Schriftenreihe Gegendiagnose geht es darum, dass es immer mehr Diagnosen für Psychische Erkrankungen gibt und wie dies im Gegensatz zum Ansatz der Inklusion steht. Das Kapitel ist gut argumentiert und für mich schlüssig. Was mich ärgert ist, dass Lars Distelhorst zu Beginn diese Kapitels behauptet, bei anderen Formen von Beeinträchtigung gäbe es ernsthafte Versuche der Inklusion.
Beim Lesen dieses ersten Bandes der Schriftenreihe Gegendiagnose stellte ich fest, dass es für die Schriftenreihe gut gewesen wäre, wenn die drei Blöcke des Buches zu eigenen Büchern gemacht und der erste Teil „Analysen zur Funktion der psychiatrischen Institution“ massiv erweitert worden wäre. Darüber hinaus hätte ich es noch gut gefunden, wenn die Autor*innen dem Thema „Psychiatrie und Arbeit“ noch mehr Platz gewidmet hätten. Was mir im Buch Gegendianose fehlt ist, der rote Faden zwischen den Blöcken im Buch, die Zusammenstellung wirkt dadurch etwas willkürlich was sehr schade ist. Deshalb kann ich nur eine eingeschränkte Leseempfehlung für den 1. Band von Gegendianose aussprechen, und zwar für Personen, die schon mit dem Thema Psychiatriekritik in Berührung gekommen sind. Als Einstiegslektüre eignet sich der 1. Band aus der Schriftenreihe Gegendiagnose meines Erachtens nicht.
