„Inklusion statt Sorgenkind“ eine kritisch wohlwollende Rezension

Das Buch „Inklusion statt Sorgenkind“ von Werner Wolff vergleicht die Situation von Schwerbehinderten der DDR mit denen der BRD in der Zeit nach 1990. Das Buch setzt sich sachlich damit auseinander, was in der DDR besser für behinderte Menschen war als in der damaligen BRD, und umgekehrt, wie es seit dem Anschluss der DDR an die BRD aussieht. Der Leipziger Autor Werner Wolff weist nach, dass behinderte Menschen zu den Verlierer*innen der sogenannten Wende zu zählen sind. Er weist auch darauf hin, dass die Rechte Behinderter seit 1968 in der DDR Verfassungsrang besaßen (Artikel 36: Jeder Bürger der DDR hat das Recht auf Fürsorge der Gesellschaft im Alter und bei Invalidität“). Dies bedeutet die DDR hatte Jahrzehnte vor der BRD eine solche Gesetzgebung denn dort gab es diese erst nach dem Anschluss der DDR 1994 wurde die Nichtdiskriminierung im Grundgesetz verankert

In Artikel 25 der DDR- Verfassung stand  ab 1968, nach einem Volksentscheid: „Für Kinder und Erwachsene mit psychischen und physischen Schädigungen bestehen Sonderschulen und Ausbildungseinrichtungen.“ Das verfassungsmäßig verbriefte Recht auf Sonderschulbeschulung wird von Wolff leider  nicht einmal kritisch hinterfragt. Ich denke ein sozialistischer Staat hätte voll  auf gemeinsames Lernen zu setzen. Die einzige Form der Sonderbeschulung, die meiner Ansicht nach zu rechtfertigen ist, ist die in Krankenhausschulen für Schüler*innen die sehr lange Zeit im Krankenhaus verbringen. Wolff weist aber nach, dass die gemeinsame Beschulung häufiger war als in der BRD und auch, dass das Erlangen besserer Abschlüsse als in der BRD möglich war.

Was mir besonders wichtig erscheint ist, dass eine höhere Durchlässigkeit gegeben war, die einen Wechsel an die Regelschule möglich machte. Dass Wolff das Sonderschulwesen in der DDR so verteidigt bleibt unverständlich.

Auch für behinderte Menschen galt, dass in der Lebenspraxis durchgesetzte Verfassungsrecht auf Arbeit. In der Regel waren behinderte Menschen in herkömmlichen Betrieben beschäftigt. Die Beschäftigungspflichtquote in der DDR betrug 10%. Behinderte genossen dem Autor zufolge in der DDR einen hohen Schutzstandard. Jeder, der dazu in der Lage war und dies wünschte, fand Arbeit, was die Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben bot. Nur wenige behinderte Menschen arbeiteten in der DDR in geschützten Werkstätten außerhalb der Betriebe. Wolff zieht leider nicht in Erwägung, dass dies eine Unzulänglichkeit des Systems gewesen war und es solche Werkstätten in einer sozialistischen Ökonomie gar nicht hätte geben dürfen.

In den VEBs gab es teilweise Sonderabteilungen für schwerbehinderte Mitarbeiter*innen. Über diese schreibt Wolff „So gesehen entsprachen die in den Produktionsbetrieben der DDR für  behinderte  Menschen  geschaffene geschützten Abteilungen und Einzelarbeitsplätze bereits vor über 40 Jahren jenes Inklusionsmodell, das Jahrzehnte später, 2008, in der UN-Behindertenrechtskonvention als weltweites Ziel vereinbart wurde.“

Das ist aus meiner Sicht nicht richtig, denn Inklusion lässt Sonderabteilungen nicht zu. Aber dass die DDR im Bereich Arbeit näher an dem war, was in der UN-BRK gefordert wird, als es die BRD 30 Jahre später ist, ist richtig. Ich befürchte, sie wird es auch in 10 Jahren noch nicht sein. Ich wage zu behaupten, wenn es die DDR noch gäbe würde es dort weder Werkstätten noch Sonderschulen geben. Laut Wolf arbeiteten ca. 600.000 Behinderte 1989 in regulären Betrieben und Dienststellen der DDR.

Den Schutz, den behinderte Arbeiter*innen in der DDR genossen verloren die ostdeutsche Behinderten mit dem Beitritt zur BRD. Dies weist Werner Wolff aus eigener Arbeitserfahrung als Behindertenvertreter des Leipziger Universitätsklinikums und langjähriger Stellvertreter der Hauptschwerbehindertenvertretung am Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst bis 2007 nach. Während die volkseigenen Betriebe vor 1990 zur Aufnahme von 10 Prozent Versehrten verpflichtet waren (was den Anteil Behinderter in der Gesellschaft entspricht), wurde eine ähnlich lautende Vorschrift im 2002 novellierten Behindertenrecht der Bundesrepublik von 6 auf 5 Prozent abgesenkt. Aber nicht einmal daran halten sich alle staatlichen Stellen. Auch sie nutzen lieber, wie die meisten übrigen Unternehmen die Möglichkeit sich freizukaufen. Das Buch von Wolff stellt eine reiche Materialsammlung zum Thema behinderte Menschen in DDR und BRD dar. Man erfährt, dass in der DDR bereits 1965 den Trabant P 601 Hycomat, ein Auto für Gehbehinderte, Rollstuhlfahrer und Beinamputierte, gebaut wurde, als in der BRD noch lange ernsthaft diskutiert wurde, ob Körperbehinderte überhaupt Auto fahren dürfen. Beleuchtet werden die Umstände der Abschaffung von Ferienlagern und der Kinder-und-Jugend-Spartakiade für Behinderte Jugendliche sowie die der Vereinigung der Versehrtensportverbände Ost und West. Es geht um den Umgang mit der Contergan-Affäre oder um den unterschiedlichen Umgang beider deutscher Staaten mit Kinderlähmung. Wolff vergisst auch nicht die negative Rolle eines bundesdeutschen Unternehmens bei der Produktion des Entlaubungsmittels Agent Orange, zu erwähnen, dass die USA bei ihrer zutiefst verbrecherischen Kriegsführung in Vietnam massenhaft einsetzten. Ebenfalls nicht vergessen hat der Verfasser den Unterschied beim Umgang der beiden deutschen Staaten mit den faschistischen Euthanasie-Verbrechen. Wolf sagt dabei auch, dass auch die DDR-Behörden in dieser Sache mehr Engagement hätten zeigen können. Der bis zum Schluss in der DDR benutzte  Begriff der „Schwerbeschädigten“ ist aus Sicht von Wolff falsch gewesen und nicht zu befürworten. Wolffs Aussage „behinderte Kinder in „Normalschulen“ zu unterrichten, sollte vernünftige Grenzen kennen“ ist abzulehnen! Werner Wolff weist in seinem Buch Inklusion statt Sorgenkind nach das behinderte Menschen in der DDR weniger Sorgenkind waren als in der BRD wo sogar eine  Fernsehlotterie den Namen  Sorgenkind hatte.

Werner Wolff, Inklusion statt „Sorgenkind“. Schwerbehinderte in der DDR, mit Vergleichen zur BRD, NORA Verlagsgemeinschaft, 188 S. ISBN 978-3-86557-499-2, 18.-€.

Sorgenkind

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