Euthanasieverbrechen im besetzten Europa: Zur Dimension des nationalsozialistischen Massenmords erschien am 28.09.2022 im Wallstein Verlag, das Buch hat 391 Seiten. Im Jahr 2024 gab es einen Nachdruck bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Grundlage der Rezension ist so ein Nachdruck Exemplar. Das Thema des Buches ist die neueste Forschungen zur europäischen Dimension der nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen. Das Buch ist in 7 große Teile eingeteilt mit je mehreren Unterkapiteln.
1.Teil
Im 1. Kapitel geben Jörg Osterloh, Jan Erik Schulte, Sybille Steinbacher eine Einführung und einen groben Überblick über die Euthanasie Verbrechen im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945. Euthanasie ist die Ermordung von psychisch Erkrankten und sog. geistig behindert und körperlich behinderten Menschen diese galten unter den deutschen Faschisten als lebensunwert.
Diese Verbrechen, die später auch als Aktion T4 bezeichnet wurden, begannen nach dem Überfall auf Polen. Die Planungen dazu waren aber schon vorher im Gange. Von den Faschisten in Deutschland wurden auch schon vorher Verbrechen an dieser Personengruppe begangen, z.B. Zwangssterilisationen. 1939 wurde der sogenannte Reichsausschus zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anderen schwereren Leiden gegründet, diese Organisation wurde als erstes mit der sog. Kindereuthanasie beauftragt die die Ermordung von Neugeborenen und Kleinkindern mit Beeinträchtigung zum Ziele hatte.
Im August 1939 wurde die Meldepflicht für neu geborene behinderte Kinder eingeführt auch der Massenmord von Erwachsenen Psychiatrie Patient*innen wurde geplant. Die Autor*innen beschreiben kurz, wie sich die eugenische Diskussion seit dem 1. Weltkrieg in Deutschland radikalisiert hat und schließlich im Massenmord endete. Ziel der deutschen Faschisten war der “gesunde” Volkskörper. Das die Autor*innen schreiben die Erbgesundheitspolitik der Deutschen Faschisten hätte eine zweifache Säuberung des Volkskörpers zum Ziel gehabt eine nach außen durch Exklusion “rassefremder” Elemente und eine nach innen durch einen von erbkranken Teilen gesäuberten Volkskörper diese Erklärung finde ich politisch problematisch weil die rassistische Exklusion und Ermordung traf auch Jüd*innen Sinti und Roma und auch Schwarze Menschen, die Teil der deutschen Gesellschaft waren, sie zum Außen zu erklären, reproduziert den Rassismus der Faschisten.
Das die Autor*innen erklären die Euthanasie hätte nicht nur aus ideologischen Gründen stattgefunden sondern es hätte auch materielle Gründe gegeben und dann Dinge anführen wie die Eliminierung unnützer Esser oder das die Psychiatrie Gebäude für Lazarette und Kasernen gebraucht wurden grenzt für mich an Verharmlosung. Die Autor*innen schreiben das nach neusten Zahlen 300000 Menschen durch die Euthanasie ermordet wurden und dass nicht nur in Deutschland sondern auch in den von Deutschland besetzten Gebieten. Besonders verstörend finde ich wenn die Autor*innen behaupten nach der Besetzung der Sowjetunion hätte die Euthanasie in diesem Gebiet hauptsächlich kriegswirtschaftliche Gründe gehabt, diese Argumentation begründen sie damit dass es ja nicht um die „Rassenreinheit“ der slawischen Bevölkerung gegangen sein könnte weil die Faschisten diese ja eh für minderwertig hielten. Die Autor*innen betonen auch die schlechten hygienischen Bedingungen in den Heimen der besetzten Gebiete und dass die Besatzer Angst vor Krankheiten hatten und deshalb die Patient*innen ermordet haben, auch das klingt für mich nach Relativierung.
Im 2. Kapitel schreibt Walter H. Pehle der langjährige Lektor beim Fischer Verlag einen würdigenden biografischen Abriss über Ernst Klee (1942-2013) Ernst Klee ist der Pionier der Euthanasie Aufarbeitung und ein guter Verbündeter der Behindertenbewegung (Krüppelbewegung 1980 Jahre) bei einigen Ereignissen die Behindertenbewegung betreffen erscheint die Rolle von Ernst Klee durch die Fokussierung auf seine Person wichtiger als sie in Wirklichkeit war, beim Thema Euthanasie Aufarbeitung kann die Pionierleistung von Erst Klee aber gar nicht genug gewürdigt werden.
Walter H. Pehle schreibt, dass sich Ernst Klee darüber freuen würde, dass 2005 eine Sonderschule nach ihm benannt wurde, da muss ich widersprechen, stattdessen denke ich, Ernst Klee hätte es abgelehnt, dass eine Institution der Ausgrenzung seinen Namen trägt. Warum dieser biografische Abriss an dieser Stelle im Buch platziert ist , verstehe ich nicht ganz, er wäre als erstes Kapitel oder als Anhang besser gewesen.
2.Teil Deutschland und Österreich
Im 3. Kapitel schreibt Gerrit Hohendorf über Euthanasie Verbrechen in Deutschland und Österreich erst beschreibt er kurz und sehr informativ die Vorgänge um die Unterzeichnung des Dekrets das den Massenmord an behinderten und Psychisch kranken Menschen zynisch als Gnaden Tod bezeichnet dann wird die Euthanasie in einen Größeren Zusammenhang mit der Eugenik Debatte seit 1900 gebracht und auf die Wandlung der Wortbedeutung seit dem 17. Jahrhundert eingegangen und es wird der Unterschied von Eugenik und Euthanasie erklärt.
Die Eugenik Debatte wurde auch durch eine massive Sparpolitik und die damit einhergehenden Argumentationen angetrieben. Auch auf die sog Kindereuthanasie wird vom Gerrit Hohendorf eingegangen, nach heutigem Stand geht dieses Programm ursprünglich darauf zurück dass Hitler von ein paar Eltern gebeten wurde ihre Kinder zu erlösen. Es wurde ein Programm zum Massenmord an behinderten Kindern und Jugendlichen. Es folgte die Aktion T4 die Euthanasie an Erwachsenen in dieser Phase wurden 70273 behinderten Menschen in 6 zentralen Tötungsanstalten oder in mobilen Gaswagen ermordet. Im August 1941 wurde dieses Programm aufgrund aufkommender Proteste eingestellt das morden ging aber in den Heimen weiter durch Medikamente und durch gezieltes verhungern lassen auch eingegangen wird auf die offensichtlichen Überschneidungen zum Holocaust der industriellen Ermordung von Jüd*innen un Sinti und Roma und Euthanasie
Im 4.Kapitel schreibt Florian Schwanninger über die NS Euthanasie in der Ostmark so wurde Österreich nach dem Anschluss an das Deutsche Reich genannt es werden die Orte der Morde benannt es wird auf die Dimensionen und auf Täterschaften eingegangen, auf einen sehr bekannten Täter wird leider nicht eingegangen, auf Hans Asperger der in Wien praktizierte. https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/geschichte/aspergers_kinder-15110.html?srsltid=AfmBOoqryGFqF4oSKAralhQSb9TiZJDsN4t7Ymz908lEeAs8WCLckx5t
Im 5. Kapitel geht Harald Jenner am Beispiel der Heilanstalt Meseritz-Obrawalde den Schwierigkeiten bei der Erforschung von Orten des Massenmords ein, wenn es widersprüchliche Angaben zum Standort gibt.
3.Teil Böhmen und Mähren
Im 6. Kapitel schreibt Hagen Markwardt über die Neuorganisation der Heil- und Pflegeanstalten nach dem Anschluss des Sudetenland an das Deutsche Reich und welche Bedeutung die NS Euthanasie in diesem Gebiet hatte. Das Thema Euthanasie im Sudetenland war vor 1990 weder in Deutschland noch in der Tsechoslowakei ein Thema. In den Letzten 15 Jahren ist dazu einiges an Literatur erschienen darauf baut der Text auf. Hagen Markwardt geht in seinem Text sehr ausführlich auf den Umbau des Gesundheitswesens ein dieses wurde strukturell an das Deutsche Reich angeglichen, fesweiteren wird in diesem Text auf Zwangssterilisationen und die Euthanasiemorde eingegangen, gesondert wird auf die durch verhungern lassen und durch Medikamente ermordeten Patientet*innen eingegangen diese Form des Mordens ging weiter nachdem die zentrale Euthanasie gestoppt wurde. Auch auf die Kindereuthanasie wird gesondert eingegangen
Im 7. Kapitel geht Michal V. Šimůnek, Milan Novák auch auf die NS Euthanasie Verbrechen in Böhmen und Mähren 1939-1945 ein beschreibt dabei aber im besonderen die Synergien und Differenzen mit der Euthanasie im Deutschen Alt Reich.
4.Teil Polen
Im 8. Kapitel Robert Parzer beschäftigt sich mit den Euthanasie Verbrechen im besetzten Polen in dem er vor allem der Frage von Täter*innenschaft und Opferstatus als fließende Zuschreibungen nach geht. Er nimmt dabei die Beteiligung Polnischer Akteur*innen bei den Euthanasiemorden in den Fokus.
Im 9. Kapitel beschäftigt sich Jan Daniluk mit dem aktuellen Stand der Forschung zu den Krankenmorden im Reichsgau Danzig-Westpreußen.
5.Teil West und Südeuropa
Im 10. Kapitel schreibt Isabelle von Bueltzingsloewen über das Massensterben in französischen psychiatrischen Anstalten unter dem Vichy-Regime 1940–1944 sie schreibt dabei über Ursachen und Verantwortlichkeiten der Stand der Forschung zeigt das es kein organisiertes Programm zu Tötung behinderter und Psychisch kranker Menschen durch Gas oder Medikamente gab was es aber gab war ein Massensterben zwischen 1940-1944 starben über 45000 Menschen Isabelle von Bueltzingsloewe versucht in diesem Kapitel das Vichy-Regime von einer Mitschuld an dem Massensterben zu befreien dabei beruft sie sich auf eine Verordnung die erhöhte Essensrationen für Psychiatrie Patient*innen vorsah. Einen großen Teil dieses Artikel beschäftigt sich aber gar nicht mit dem Massensterben an sich sondern damit der französischen Linken vorzuwerfen dass sie aus Eigeninteresse behaupten würde das Vichy Regime hätte eine Mitschuld an den Toten.
Im 11. Kapitel beschäftigt sich Cecile aan de Stegge mit Mangelversorgung, Hungersterben und Mord in niederländischen Anstalten 1940–1945 und vor allem zum Anteil der Verantwortung den deutsche und niederländische Täter*innen tragen, im Gegensatz zu Isabelle von Bueltzingsloewen nimmt sie keine Relativierung vor der Verantwortlichkeiten für Hunger Toten angeht vor.
Im 12. Kapitel beschreibt Maria Fiebrandt die Sondersituation der Südtiroler Umsiedler die im Visier der NS-Psychiatrie waren und somit von Euthanasie bedroht waren. In diesem Kapitel habe ich am meisten neues erfahren. Bei den Südtiroler Umsiedlern handelte es sich um sog Volksdeutsche die Faschisten in Deutschland und die Faschisten in Italien hatten ein Abkommen das die Volksdeutschen umgesiedelt werden sollten, eigentlich wollten die Deutschen Faschisten Psychiatrie Patient*innen und behinderte Menschen nicht umsiedeln, darauf ließen sich die italienischen Faschisten aber nicht ein. Die Südtiroler Volksdeutschen waren italienische Staatsbürger*innen deshalb sagten die Italiener*innen entweder nehmt ihr alle oder keine. Deshalb siedelten die Deutschen alle Volksdeutschen um aber verweigerten den Psychisch kranken und behinderten Menschen die Staatsbürgerschaft, damit waren sie staatenlos das führe aus Sicht der deutschen Faschisten zum bürokratischen Problem dass nicht klar war ob die Südtiroler*innen in die Aktion T 4 einbezogen werden sollen oder nicht das heißt die Südtiroler Umsiedler wurden zwar registriert aber entkamen erst einmal der Ermordung.
6.Teil Sowjetunion
Im 13. beschäftigt sich Dmytro Tytarenko mit den Euthanasie Verbrechen in der Ukraine während der deutschen Okkupation er geht dabei ausführlich auf die Opfergruppen, die Akteure und die Umstände der Vernichtung ein.
Im 14. Kapitel beschäftigt sich Björn M. Felder mit den Euthanasie Verbrechen in den baltischen Staaten er geht dabei am Beispiel Litauens 1941–1944 auch auf in diesen Ländern stark verankerte Eugenik Traditionen ein er beschäftigt sich damit welchen Einfluss Elektroschocktherapie und die experimentelle Praxis der somatischen Therapien in der klinischen Psychiatrie bei den Euthanasie Verbrechen hatte. Den Volksdeutschen behinderten Menschen aus den Baltischen Staaten ging es teilweise wie den Südtiroler*innen
Im 15. Kapitel beschäftigen sich sich Irina Rebrova und Alexander Friedman mit Behinderte Kinder als Opfer der nationalsozialistischen Mordpolitik an Beispielen aus Schumjatschi (Gebiet Smolensk) und Jejsk (Gebiet Krasnodar)
Im 16. Kapitel beschäftigt sich Christina Winkler mit der Vernichtung psychisch Kranker und Behinderter Menschen in den besetzten Gebieten Sowjetrusslands In diesem Kapitel ärgert mich extrem das immer wieder der Roten Arme wegen unzureichender Evakuierung und den hygienischen Verhältnissen in den Heimen eine Mitschuld an den Verbrechen der deutschen Besatzer zugeschrieben wird aber das passt wohl in die heutige Weltpolitische Lage.
7. Teil Schlussbemerkungen
17. Kapitel Paul J. Weindling geht noch mal auf die Dimension der Euthanasie Verbrechen im deutsch besetzten Europa, er erstellt einen Überblick in Zahlen und Fakten, wobei auch noch auf andere besetzte Länder z.B. Slowenien Serbien Griechenland und Italien eingegangen wird in einem Plädoyer spricht er sich für das Ende der Anonymisierung der Opfer aus diese Anonymisierung ist in der Forschung zu den Euthanasie Verbrechen im besetzten Europa immer noch gang und gäbe im Gegensatz zu anderen Opfergruppen. Diesem Plädoyer ist voll und ganz zuzustimmen
Den Abschluss Des Buches Euthanasie Verbrechen im besetzten Europa bildet ein Anhang Publikationen, Filmen und Rundfunkbeiträgen von Ernst Klee zum Thema der sehr hilfreich ist es gibt ein Autor*innenregister Abkürzungen werden erklärt auch das Personen und das Ortsregister sind sehr hilfreich trotz einiger ärgerlicher Stellen ist das Buch Euthanasieverbrechen im besetzten Europa ein guter Überblick zu diesem Thema.
https://inklusion-statt-integration.de/behinderte-menschen-in-der-sowjetunion-eine-rezension/