Rojava: Rezension des Buches Wir wissen, was wir wollen

Bei Edition Assemblage brachte ein  Herausgeber_innenkollektiv 2021 das Buch „Wir wissen, was wir wollen – Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien“ heraus. Das Buch hat 560 Seiten es ist eine detaillierte Beschreibung der Frauenrevolution in Rojava. Im Großen und Ganzen basiert das Buch auf 150 Interviews. Diese Interviews führte eine Delegation der feministischen Kampagne „Gemeinsam kämpfen“, die sich über mehrere Monate in Rojava aufhielt in Zusammenarbeit mit dem Andrea Wolf Institut konnte diese grundlegende Schrift über Theorie und Praxis der kurdischen Frauenbewegung erscheinen.

Das Buch ist die Fortsetzung des 2012 erschienenen Buches „Widerstand und gelebte Utopien“, aus dem Mesopotamien Verlag. Dieser Verlag ist leider auf Grund der Repression des Deutschen Staates gegen die kurdische Befreiungsbewegung mittlerweile verboten. Diese Repression erfolgt vor allem auf Wunsch des Nato-Partners Türkei.Der erste Band, der vor fast zehn Jahren erschien, konzentrierte sich auf Nordkurdistan und die Türkei. Der Fokus von „Wir wissen was wir wollen“ liegt auf Rojava.

 Im Buch wird die Revolution in Rojava als eine Revolution der Frauen dargestellt bei der Fragen der Demokratie und Ökologie im Mittelpunkt stehen. Die Gespräche die nicht in voller Länge abgedruckt wurden, werden jeweils durch die Herausgeber*innen den inhaltlichen Schwerpunkten zugeordnet.

Am Beginn des Buches steht ein Grußwort der Jineoloji Akademie in Rojava, es folgt eine Einleitung In der die Herausgeber*innen Ihre Motivation darstellen die Reise nach Rojava zu unternehmen und sie stellen ihren Aufenthalt kurz dar. Es folgen Kapitel in denen die historische Entwicklung und die Rolle der Frau in den verschiedenen Phasen der kurdischen Befreiungsbewegung seit 1973 dargestellt werden dabei wird auch auf die Unterdrückung der Kurd*innen durch das syrische Regime eingegangen außerdem werden die theoretischen Grundlagen des kurdischen Feminismus erklärt und welche Rolle dabei Abdullah Öcerlan spielt man muss wissen, dass in der Ideologie des Demokratischen Konföderalismus das Patriarchat als Ursache aller Unterdrückung anzusehen ist. https://de.wikipedia.org/wiki/Jineologie

Im weiteren wird auf die kulturelle Vielfallt der Westkurdischen Gebiete auf den Aufbau einer Rätestrukture, Bildung, Kunst, Kultur, Sprache, Diplomatie, die Frauenverteidigungskräfte, die Ökonomie und dieOrganisation der Kriegsversehrten sowie das Gesundheitssystem eingegangen.

Mir war beim Lesen des Buches der Umgang mit behinderten Menschen im revolutionären Prozess in Rojava besonders wichtig und deshalb gehe ich im Folgenden auf die Themen Bildung und Selbstvertretungsstrukturen von behinderten Menschen besonders ein.

 

Der Abschnitt über schulische Bildung wurde von mir  etwas ergänzt mit Informationen zu neueren Entwicklungen, die Informationen sind aus dem Kurdistan Report Interview mit Abdi Qader, KPC-Demokratie

Abdi Qader ist Mitglied des im Juni 2015 gegründeten »Komitees für die Bildung und Ausbildung einer Demokratischen Gesellschaft«, KPC-Demokratik (Komiteya Perverdeya Ciwaka Demokratik). Er ist in Kobanê geboren und hat sein Studium in Qamişlo absolviert.

In den Befreiten Gebieten von Rojava herrscht ein sehr umfassendes Verständnis von Bildung vor dieses Bildungsverständnis legt den Fokus auf die Persönlichkeitsentwicklungen im Kollektiv . Bildung umfasst mehrere Ebenen. Im idealen Fall hat jede Kommune ein Bildungskomitee welches verschiedene öffentliche Bildungsangebote für alle Bürger*innen organisiert.

Die zweite Ebene der Bildung sind die Akademien. Bei dieser Form treffen sich Menschen in Gruppen, um über mehrere Tage oder sogar Monate hinweg und befassen sich intensiv mit einem Thema. Die intensivste Form dieser Bildung findet in der Mesopotamien-Akademie in Qamislo statt, unabhängig davon welchen Schulabschluss die Teinehmer*innen haben. Es können dort Kurse mit verschiedenen Schwerpunkten gewählt werden (z.B. Geschichte oder Soziologie) Auch hier gehört die Vermittlung von Jineologie als fester Bestandteil dazu. Die Teinehmer*innen wohnen und leben zusammen. Die Dozent*innen kommen aus den verschiedensten Arbeitsbereichen, die etwas mit den zu vermittelnden Bereichen zu tun zu haben. So soll vermieden werden, dass Bildung und Arbeit getrennt voneinander betrachtet werden. Ein wichtiger Bestandteil des Systems der Akademien sind die autonomen Frauen-Akademien. Das System der Bildung in den Kommunen und an den Akademien ist auf Grund dessen, dass es nicht an formale Bildungsabschlüsse gebunden ist erst einmal für jede*n offen. Wie barrierefrei es auch für behinderte Menschen wirklich ist, wurde im Bildungsabschnitt des Buches leider nicht ausreichend deutlich. Es gibt auch ein paar Universitäten in Rojava. Welche Funktion diese im Bildungsverständnis haben und durch was sie sich genau von geschlossenen Akademien unterscheiden wird mir leider nicht deutlich genug.

Der Rat für Bildung und Ausbildung in Nord – und Ostsyrien, entwickelte in der kurdischen Autonomieregion Rojava ein neues Schulsystem, um eine demokratische Gesellschaft zu fördern. 2015 fand die erste Konferenz für Sprache und Bildung aller Kantone statt. Dort wurde eine sechs Jahrgangstufen umfassende Schule beschlossen. Die Kinder der verschiedenen Bevölkerungsgruppen sollen in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, aber die gleiche Schule besuchen. Daher werden die Schüler zunächst entsprechend ihrer jeweiligen Muttersprache in Klassen eingeteilt. Ab der 4. Klasse wird dann zusätzlich eine der Nachbarsprachen gelehrt. Kurdische Kinder lernen also z.B. auch Arabisch und umgekehrt. (Da scheint sich mittlerweile etwas geändert zu haben es scheint jetzt die 3 Klasse zu sein)

Ab dem 5 Schuljahr kommt dann noch Englisch hinzu. Auch das scheint sich dahingehend verändert zu haben das es jetzt die 6 Klasse ist, in der Englisch oder Französisch gewählt werden kann.

So lernen die Kinder von klein auf, andere Sprachen zu verstehen und zu achten. Dies führt dann wiederum zur Entstehung einer aufgeschlossenen, multikulturellen und mehrsprachigen Gesellschaft. Auch im Geschichtsunterricht werden besondere Schwerpunkte für die jeweiligen ethnischen Gruppen gesetzt. Ab der siebten Klasse gibt es außerdem Kurse, in denen die Lehren und Inhalte der Jineolijî unterrichtet werden.

2017 fand die zweite Konferenz statt. Die befreiten Gebiete von Rojava waren zwischenzeitlich noch größer geworden. Es wurde eine 9-stufige Schule beschlossen. Es wurde ein Komitee gegründet was neue Schulmaterialien entwerfen sollte diese Inhalte wurden dann in einem 45-tägigen Kurs an die Lehrer*inen vermittelt zu den Inhalten in allen Klassenstufen und Fächern gehört auch hier wieder Jineologie dazu um den Beitrag von Frauen in der Geschichte und ihre Bedeutung und Rolle in der Gesellschaft aufzuzeigen.

Sowohl Lehrer*innen als auch Schüler*innen haben Selbstverwaltungsstrukturen, die auf die Entwicklungsprozesse Einfluss nehmen können. Ab der 7 Klasse sind Schüler*innen in Schüler*innenräten. Vorher übernehmen diese Aufgabe stellvertretend die Elternräte. Die Schüler*innenräte sind an den Schulführungen beteiligt. Außerdem wird das Kovorsitzenden-System auch an den Schulen konsequent umgesetzt. Zur Zeit des Assad Regimes gab es nur einen Schuldirektor. Heute leiten immer eine Frau und ein Mann gemeinsam die Schule. Lehrer*innen und Schüler*innen sind aufgerufen Kritik an Lehrinhalten oder deren Vermittlung zu üben Der wohl bedeutendste Unterschied ist aus meiner Sicht das Verhältnis zwischen Lehrenden und Schüler*innen. Die Schüler*innen sollen zu freien und selbstbestimmten Bürgern erzogen werden. Kritisches, eigenständiges Denken und Handeln wird gefördert.

In diesem neuen System sind die Schüler für das Schulleben mitverantwortlich und sie können aktiv mitbestimmen. Die Schüler*innenkomitees führen dazu, dass die die Schulen demokratisch und partizipatorisch gestaltet werden. Es wurde auch ein neues Bewertungssystem eingeführt und die Prüfungsleistungen um mündliche Gespräche zwischen Lehrenden und Schüler*innen ergänzt. Es gibt kein »Durchfallen« im klassischen Sinne mehr.

Die Prüfungen sollen helfen herauszufinden, in welchen Bereichen die einzelnen Kinder Schwierigkeiten haben, statt einfach nur schlechte Noten zu verteilen. Die Lehrer*innen arbeiten dann gezielt mit den Schüler*innen an ihren jeweiligen Defiziten. Darüber hinaus sind an den Schulen keine Reinigungskräfte beschäftigt. Lehrer*innen und Schüler*innen sind gemeinsam für die Sauberkeit der Gebäude verantwortlich. Eine besondere Herausforderung ist, mit dem Schmerz der Kinder adäquat umzugehen. Durch den Krieg haben die Kinder vieles erlebt, was sie nicht vergessen bzw. verarbeiten können. Es wird nach Kräften versucht, sie mit verschiedenen Aktivitäten abzulenken und den Kindern, deren Eltern im Kampf gegen den IS getötet wurden, zu erklären, wofür ihre Eltern ihr Leben gegeben haben. Allerdings fehlen die Kapazitäten für eine gezielte Traumatherapie.

Große Probleme im Bildungsbereich werden durch die irreparablen Schäden an den Schulgebäuden verursacht. Ein Ziel ist es, den Unterricht in Zukunft praxisbezogener zu gestalten. Noch fehlen dafür aber die Möglichkeiten. Die schulische Ausbildung endet in Kobanê momentan nach der 12. Klasse. Ein großes Problem ist, dass die autonome »Föderation Nordsyrien – Rojava« international nicht anerkannt wird. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf das Bildungswesen, da die in Kobanê erworbenen Schulabschlüsse außerhalb Rojavas nicht akzeptiert werden. Dieser Aspekt ist daher ein wichtiger Bestandteil der diplomatischen Bemühungen. Es wird versucht internationale Kooperationen auszubauen und z.B. gemeinsam mit Lehrenden in Deutschland entsprechende Projekte zu entwickeln. Die Anerkennung der Abschlüsse hätte schließlich auch positive Auswirkungen auf das Bewusstsein der Bevölkerung für die Notwendigkeit einer schulischen Ausbildung.

Auf behinderte Kinder wird im Bildungskapitel des Buches nicht eingegangen. In den ergänzenden Information aus dem Interview mit Abdi Qader wird auf traumatisierte Kinder eingegangen, die auf Grund mangelnder Ressourcen noch nicht vollständig inklusiv beschult werden können aber im Gegensatz zu Deutschland erkenne ich einen politischen Willen diese Kinder mitzudenken.

Kinder mit körperlichen mentalen Beeinträchtigungen werden nicht erwähnt, was schade ist, da sich der Grundaufbau des Schulsystems fast perfekt für Inklusion beeinträchtigter Kinder eignet. Was mich etwas skeptisch macht ist die Aufteilung inden ersten Jahren in Muttersprachklassen. Das lädt dazu ein bei gehörlosen Kindern genauso zu argumentieren und die einzelnen Gebärdensprachen als Muttersprachen zu sehen und ein Sondersystem aufzubauen was ich problematisch fände. Ich hoffe dass die gehörlosen Kinder in Zukunft unterstützt von Dolmetscher*innen mit den höhrenden Kindern unterrichtet werden.

Durch die Angriffe des  IS, die Türkei und ihre Verbündeten aber auch durch Assad und das syrische Militär gibt es viele Tote und Verletzte. Diese Gruppen haben höchstes Ansehen in der Bevölkerung. Wobei die Kriegsverletzten, wie alle anderen Bevölkerungsgruppen ihre eigene Organisation haben. Ein Teil der Verletzten wohnt weiter bei der eigenen  Familie der größere Teil wohnt in sogenannten „Mala Gazî“ Diese Häuser der Verletzten sind Einrichtungen der autonomen und selbstverwalteten Strukturen Rojavas diese Häuser werden weitgehend durch die behinderten Kämpfer*innen  selbstverwalted. Die Verletzen sind weiterhin Teil der Revolutionären Verteidigungskräfte YPG YPJ. In den Häusern der Verletzten wohnen und arbeiten fast ausschließlich selbst Verletzte, das gehört zum Konzept der Selbstverwaltung dazu. Die Föderation der Kriegsverletzten, die auch nach strengen Rätestrukturen aufgebaut ist, betreibt sechs selbstverwaltete Akademien in denen die Kriegsverletzten sich weiterbilden können und so auf ihr neues Leben vorbereitet werden. Auch auf eine mögliche neue Arbeit werden die Teilnehmenden vorbereitet ob sie ihrer Aufgabe gerecht werden und ob die ökonomischen Strukturen Willens und in der Lage sind, dass sie behinderte Menschen aufnehmen bleibt leider unbeantwortet. Im Buch weist auch nichts darauf hin ob es Selbstverwaltungsstrukturen für zivil beeinträchtigte Menschen gibt. Das ist aus meiner Sicht schade. Das Buch ist sehr zu empfehlen und ein Muss für jede*n Inklusionsaktivist*in.Außerdem fordere ich Freiheit für Abdullah Öcalan und weg mit dem PKK Verbot in Deutschland und es ist zu Verurteilen das der Natobeitritt von Schweden und Finnland voll zu Lasten der Exil Kurd*innen in diesen Ländern geht

Rojava

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