Am 13.3.2025 ist das Buch Läuft von Hülya Marquardt im Adeo Verlag erschienen. Hülya Marquardt wurde 1983 mit einer genetischen Dysmelie der Hände und Beine in einer türkischen Migrant*innenfamilie (3.Generation) im Ruhrgebiet geboren. Im Prolog beschreibt Hülya einen Glücksmoment in ihrem Leben, sie sitzt glücklich im Garten und ist schwanger mit dem ersten Kind und sie beschreibt ihre Dankbarkeit für diesen Moment, als behinderte Frau schwanger zu sein.
Ihr Großvater ist der erste der Familie, der 1960 als erster aus der Familie, der als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kommt, nach einigen Jahren holt er seine Frau und seine Kinder nach Deutschland, darunter Hülyas Vater. Hülyas Großvater erhofft sich eine bessere medizinische Versorgung für Hülyas Vater, denn dieser hat eine Dysmelie.
Hülyas Vater lernt Hülyas Mutter auf einem Türkei Urlaub kennen, die damals 15 jährige geht nur bedingt freiwillig mit nach Deutschland und heiratet nicht aus freien Stücken.
1983 wurde Hülya mit derselben Dysmelie wie ihr Vater geboren, zumindest ihre Mutter wusste nicht, dass die Dysmelie ihres Mannes genetisch ist und war erst einmal geschockt.
Hülya beschreibt in den folgenden Kapiteln, wie sie zu der selbstbewussten Frau wurde, die sie heute ist.
Aufgrund vieler Operationen hat Hülya den Großteil ihrer frühen Kindheit im Krankenhaus verbracht, sie schätzt, in den ersten Jahren rund 60%, von ihren Eltern wurde sie in dieser Zeit nicht wirklich unterstützt, sie besuchten Hülya nur selten im Krankenhaus. Die Zeit, die sie in früher Kindheit zuhause verbracht hat, ist eher von Gewalt als von Fürsorge geprägt. Die Zeit der Grundschule ist davon geprägt, dass sie lieber in der Schule ist als zuhause, ihre Grundschule ist eine Regelschule. In der weiterführenden Schule geht Hülya in eine Schule für körperbehinderte Schüler*innen.
Als sich ihre Eltern trennen, zieht Hülya trotz der durch ihn immer wieder ausgeführten Gewalt zu ihrem Vater, der sich nach der Trennung von ihrer Mutter, wie Hülya beschreibt, sich zum besseren verändert. Einige Zeit nach der Scheidung zog Hülyas Mutter wieder in die Türkei zurück.
Hülya geht mit 15 in das Internat der Körperbehindertenschule, in der sie war, in diesem Internat lebte sie 9 Jahre lang. Schon paar Jahre vorher hatte Hülya freiwillig ein Jahr mit einer ihrer Schwestern in einem Mädcheninternat in der Türkei.
Was mich aus inklusions-politischer Sicht leicht schockiert hat, ist, dass sie beschreibt, dass sie sich in exkludierenden Institutionen für behinderte Menschen freier fühlte als in ihrer Familie.
Mit 18 Jahren wird erst ein Bein amputiert und nach einem Arztfehler muss das zweite Bein amputiert werden.
Sie gewann 2004 den Modelwettbewerb „Beauties in Motion“ für Frauen im Rollstuhl. Nach der Schule macht sie im Berufsbildungswerk eine Ausbildung zur Bürokauffrau, sie macht den Führerschein. Nach über 100 Absagen auf Bewerbungen bekommt sie einen Job – was ich schwierig finde, ist ihr indirektes Verständnis für Unternehmen, die keine behinderten Menschen einstellen.
Dann beschreibt Hülya die Anfänge der Beziehung zu ihrem späteren Mann. Sie geht darauf ein, dass Dennis nie ein Problem mit ihrer Beeinträchtigung hatte und wie selbstverständlich ihr bei Dingen hilft, wo sie Hilfe benötigt und wie beide aus solchen Situationen intime Momente kreieren. Sie erzählt von einigen Renovierungs-Projekten, die sie mit Dennis und dessen Eltern durchgeführt hat, darunter ein altes Haus. Sie gründet mit ihrer Schwiegermutter ein Modegeschäft.
Über das religiöse Verständnis von Hülya erfahren wir als Leser*innen dass sie immer wieder mit dem Islam hadert, aber nicht wegen ihrer Behinderung sondern weil sie nicht an einen Gott glaubt der so viele Verbote aufstellt. Wir erfahren auch, dass sie aber ein sehr spiritueller Mensch ist, und teils auch esoterisch angehauchte Phasen hatte, ihre Religiosität zieht sich durch das ganze Buch teils tiefgründiger, teils als Kalenderspruch artige Weisheiten.
Im Kapitel Eine Hochzeit und zwei Todesfälle lässt die Autorin erst einmal ihren Mann, der zur Zeit in der die Episode stattfand, die er erzählt, noch ihr Freund ist, zu Wort kommen und er schildert seinen Heiratsantrag.
Die Zeit zwischen Antrag und Hochzeit war sehr sehr turbulent, Hülya musste zwei sehr große Schicksalsschläge bestehen ihr Vater verstirbt ebenso ihre Oma väterlicherseits kurz darauf der Verlust ihres Vater trifft Hülya schwer und sie beschreibt dieses Ereignis und die Zeit danach ausführlich. Danach beschreibt sie die Hochzeit sehr ausführlich. Danach geht sie sehr ausführlich auf ihren Instagram Blog ein, wo sie eine sehr erfolgreiche Aufklärungsarbeit zum Thema Inklusion leistet und das ohne viele Worte.
Dann folgt ein Kapitel das mich verärgert Hülya schildert eine Situation in der sie aufgrund ihrer fehlenden Beine als Inspiration bezeichnet wurde und ein kostenloses Wasser bekam und sie freute sich. Diese Situation nutzt Hülya um danach mit Teilen der der Behindertenbewegung abzurechnen indem Sie schreibt. “Das war bestimmt nicht supergeschickt in der Wortwahl ,aber ich fand es nicht schlimm. Ihre Intention war gut und es war total nett,dass sie mir Wasser gebracht hat. Ich habe diese Begegnung als total positiv in Erinnerung-aber es gibt auch eine völlig andere Sichtweise auf solche Situationen. Hinter dem Begriff Inspiration Porn oder Inspiration Exploration steckt eine Bewegung bei der sich behinderte Menschen dagegen wehren, dass andere sie als Inspiration betrachten. Sie finden es blöd, wenn sie irgendwelche normalen Dinge machen und andere das bewundernswert finden oder für sich selbst denken : Mann die schafft das ohne Beine dann kann ich mich doch auch zusammenreißen”……….. Ich verstehe das. Ich verstehe mich selbst nicht als Vorbild oder sowas und ich kann nachvollziehen, dass es ein bisschen nervt, wenn Leute vor lauter Inspiriertsein Tränen in den Augen haben, wenn jemand mit Behinderung einfach nur sein Leben lebt. Aber- und das ist ein großes Aber so sehr ich den Gedanken unterstütze, dass mehr Aufmerksamkeit und Sensibilität für Menschen mit Behinderung wichtig und notwendig ist… Das Ganze hat auch eine Kehrseite. Dieser krasse Begriff Inspiration Porn und viele andere Schlagworte und Hashtags wie Disability Pride Don’t Touch my Wheelchair gehören zu einer Bewegung in Social Media mit tausenden Regeln, was man alles nicht sagen oder tun soll, wenn man einem Menschen einem Menschen gegenüber steht der eine Behinderung hat. Das Schafft sicher Aufmerksamkeit- aber nicht unbedingt eine positive”.
Ich möchte kurz erklären warum mich diese Aussagen wütend machen. Hülya fällt damit der Behindertenbewegug in den Rücken und macht sich zum Token derjenigen nichtbehinderten Menschen, die Inklusion verlangsamen oder verhindern wollen ….
Ein paar Zeilen weiter problematisiert Hülya das Verhalten von nicht behinderten Eltern, die verhindern, dass ihre Kinder offen auf behinderte Menschen zugehen, diese Kritik teile ich. Problematisch finde ich wenn sie es rechtfertigt dass wildfremde Menschen auf behinderte Menschen zukommen und ihnen anbieten für sie zu beten ihr mag das aus ihrer religiösen Haltung heraus recht sein aber ich als behinderter Atheist finde das übergriffig der einzige Ort wo das angebracht sein mag ist Lourde.
In der Folge weist Hülya noch darauf hin, was sich aus ihrer Sicht gerade in Bezug auf Barrierefreiheit noch verbessern muss, da hat sie meine volle Zustimmung. Im nächsten Kapitel beschreibt sie das Leben als behinderte Mutter mit Kind, sie tut das sehr ausführlich und emotional, sie weist auf das Glück hin, dass sie empfindet, lässt aber auch Herausforderungen nicht unerwähnt aus meiner Sicht das schönste Kapitel und das wichtigste Kapitel im Buch Läuft von Hülya Marquardt. Mir fällt die Entscheidung, ob ich das Buch Läuft von Hülya Marquardt empfehlen soll, nicht leicht, im Endeffekt denke ich mensch kann Läuft von Hülya Marquardt lesen muss, mensch aber nicht.